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Literatur als Medikament

Lange bevor in den Spitälern Patientenbibliotheken eingerichtet und moderne Psychotherapiemethoden entwickelt wurden – ja lange bevor Patienten überhaupt fühlen durften –, berichteten die Schriftsteller selbst, wie und wobei ihnen das Lesen und Schreiben geholfen habe. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Hier finden Sie ein paar Beispiele.

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© Nicolas Mahler | Der Mann ohne Eigenschaften

Prosa und Gedichte sind wie Medikamente. Sie heilen den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet. Ich war beschädigt und ein sehr wichtiger Teil meiner Person war zerstört worden – das war meine Wirklichkeit, die Fakten meines Lebens; doch jenseits der Fakten war die Person, die ich sein konnte, wie ich mich fühlen konnte, und solange ich dafür Worte, Bilder, Geschichten hatte, war ich noch nicht verloren.
Jeanette Winterson, Warum glücklich statt einfach nur normal? (2011)

Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuss er sich für all das Unangenehme in seiner wirklichen Welt entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche.
Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (1785)

Ich hatte, nach Büchern herumspürend, in der Leihbibliothek unserer Stadt einen Roman des Jean Paul in die Hände bekommen. In demselben schien mir plötzlich alles tröstend und erfüllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt und gesucht oder unruhig und dunkel empfunden [...].
Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1854)

Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben seinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus.
Charles Dickens, David Copperfield (1849/50)

Sie liegt auf dem Sofa im Gruppenraum und kann nicht aufhören, in diesem Buch zu lesen, «Geliebte Söhne» von Howard Spring, noch nie hat eine Geschichte sie derart erschüttert. Es geht um Liebe, die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn. Als sie den Roman beendet hat, ist sie so überwältigt und ergriffen, dass sie heult. Sie will Howard Spring danken, sie will ihm schreiben. Es gibt also jemanden auf der Welt, der sie versteht, obwohl er sie gar nicht kennt.
Angelika Klüssendorf, Das Mädchen (2011)

Ein Buch ergreift oder fesselt mich. Es ist ein liebes Buch, ein geistvolles, ein langweiliges, ein gemütvolles usw. Ist es das wirklich oder nur für schlechte Beobachter? Ist es Verlegenheit oder Gesetz, dass wir in der Praxis solche Aussagen von einem Buch machen und dass es die gleichen sind wie von einem Menschen?
Robert Musil, Tagebücher (1920)

Ich behaupte, dass Bücher keine toten Dinge sind. Sie sind so lebendig wie die berühmten Drachenzähne, die, einmal gesät, eines Tages als bewaffnete Krieger aus dem Boden schiessen können.
Christopher Morley, Das Haus der vergessenen Bücher (2014, orig. 1919)

Die beste Abwehr, die ich fand, war das Erzählen eigener Geschichten, seinen Halbwahrheiten die reine Wirklichkeit der Fiktion entgegenzusetzen. Es war Notwehr, nichts sonst.
John Burnside, Lügen über meinen Vater (2011)

In den Wochen vor Semesterschluss, als wir uns mit Tschechows Erzählungen beschäftigen, kommt es mir beim Vorlesen von bestimmten Passagen, auf die ich meine Studenten besonders aufmerksam machen möchte, vor, als enthielten sie samt und sonders und in jedem einzelnen Satz vor allem Anspielungen auf meine eigene Misere, gleichsam als ob inzwischen jede einzelne Silbe, die ich denke oder von mir gebe, zunächst einmal durch den Filter meiner eigenen Schwierigkeiten hindurchsickerte.
Philip Roth, Professor der Begierde (1977)

Der Umgang mit Büchern tröstet mich im Alter und in der Einsamkeit. Er entlastet mich von der Bürde des öden Müssiggangs und hält mir zu jeder Stunde unerwünschte Gesellschaft vom Leibe. Er stumpft die stechenden Schmerzen, falls sie nicht übermächtig sind. Bücher verübeln es mir nicht einmal, dass ich nur dann ihre Gesellschaft suche, wenn ich jene andren, wirklichen, lebendigeren und natürlicheren Genüsse entbehren muss, sondern empfangen mich stets mit gleich freundlicher Miene.
Michel de Montaigne, Essais (1572-1592)